Familienprobleme verstehen

 Steve Pavlina & Stephan Schubert·

Eine der schwierigsten Angelegenheiten, wenn es zu Problemen in der Familie kommt, ist, dass man nicht die gesamte Beziehung kontrolliert. Ob die Beziehung blüht oder welkt, hängt nicht nur von einem selbst ab. Es gehören eben immer zwei dazu.

Akzeptanz statt Kontrolle

Wenn man auf größere Probleme in der Familie trifft, versucht man meist eine Kontrollstrategie. Man versucht die andere Person zu ändern. Manchmal funktioniert diese Herangehensweise, besonders wenn das Anliegen sinnvoll ist und die andere Person vernünftig. Oft führt sie aber nur zu Frustration.

Anderseits könnte man die Person vielleicht einfach akzeptieren, wie sie ist, wenn man sie nicht ändern kann. Diese Strategie funktioniert manchmal auch, aber sie führt oft zu Frustration und Verbitterung, wenn die eigenen Bedürfnisse nicht beachtet werden.

Es gibt jedoch noch eine dritte Strategie, wenn man die andere Person nicht ändern kann und es für einen nicht möglich ist, sie so zu akzeptieren, wie sie ist. Bei dieser Strategie ändert man sich selbst, sodass das Problem gelöst wird. Dazu muss man das Problem von einem äußeren zu einem inneren umdefinieren. Die Lösung wird eine Erweiterung des eigenen Bewusstseins und/oder eine Veränderung in den eigenen Einstellungen erfordern.

Man kann Beziehungen so betrachten, dass sie den Teil von eigenen Selbst reflektieren, den man selbst nicht mag. Wenn man in einer negativen, äußeren Beziehungssituation steckt, dann ist dies eine Reflexion der Konfliktsituation im eigenen Denken. Solange wie man die Antwort nicht in seinem eigenen Inneren sucht, wird man vielleicht das äußere Problem nie lösen können. Wenn man aber einmal anfängt, in seinem eigenen Inneren zu suchen, wird es eventuell leichter, das Problem zu lösen.

Wenn man solche Probleme angeht, wird man bemerken, dass man eine oder mehrere Überzeugungen in sich trägt, die das Beziehungsproblem in seiner gegenwärtigen Form aufrechterhalten. Diese Überzeugungen sind das tatsächliche Problem—der wirkliche Grund für die ungesunde Beziehung.

Man stelle sich eine problematische Beziehung zwischen sich selbst und einem anderen Familienmitglied vor. Man stelle sich außerdem vor, dass man die Einstellung vertritt, dass man jedem Familienmitglied nahe stehen muss, nur weil man verwandt ist. Vielleicht würde man das Verhalten des Familienmitgliedes nie akzeptieren, wenn es von einem Fremden käme, aber dieser Mensch ist ein Verwandter und so toleriert man es aufgrund des eigenen Pflichtbewusstseins, Verantwortungsgefühls und des eigenen Konzepts von Familie. Ein Familienmitglied aus seinem Leben zu verbannen, könnte ein Schuldgefühl in einem verursachen oder es könnte zu einer Gegenreaktion anderer Familienmitglieder führen. Man sollte sich jedoch ehrlich fragen:

“Würde ich dieses Verhalten bei einem Fremden tolerieren? Warum toleriere ich es dann von einem Familienmitglied?”

Warum genau hat man sich entschieden, die Beziehung fortzusetzen statt die Person aus seinem Leben zu verbannen? Was sind die Einstellungen, die dazu führen, dass die problematische Beziehung fortgeführt wird? Und sind diese Einstellungen wirklich die eigenen Einstellungen?

Meine Familie als Beispiel

Ich liebe meine Eltern und Geschwister bedingungslos (Ich habe zwei jüngere Schwestern und einen jüngeren Bruder). Trotzdem habe ich schon jahrelang keine besonders enge Beziehung zu ihnen gehabt. Es gab keinen großen Streit oder Ähnliches—es ist nur so, dass meine persönlichen Werte und mein Lebensstil sich dermaßen von ihren fortentwickelt haben, dass es kaum noch genügend grundlegende Gemeinsamkeiten gibt, um eine starke Bindung zu gewährleisten. Meine Eltern und Geschwister vertreten alle die Angestellten-Mentalität und eine geringe Risikotoleranz, aber als Unternehmer verputze ich Risiko gern zum Frühstück. Meine Frau, meine Kinder und ich leben alle vegan, während meine Eltern und Geschwister die Feiertage mit dem traditionellen Verzehr von Tieren begehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand in der Familie je gesagt hätte

“Ich liebe dich”

als ich aufwuchs, aber mit meinen eigenen Kindern bin ich sehr gefühlsbetont und bemühe mich ihnen täglich zu sagen, dass ich sie liebe. Meine Eltern und Geschwister sind praktizierende Christen, aber das Christentum habe ich schon vor 17 Jahren hinter mir gelassen, um andere Glaubenssysteme zu erkunden. (Technisch gesehen werde ich im Glaubenssystem meiner Familie in der Hölle schmoren, das hat den Kontakt also stark gedämpft.) Obwohl ich in dieser Familie aufgewachsen bin und viele Erinnerungen mit ihnen teile, sind unsere Grundwerte so unterschiedlich voneinander, dass es sich einfach nicht mehr wie eine bedeutungsvolle Familienbeziehung anfühlt.

Aber abgesehen von diesen Differenzen kommen wir miteinander aus und verstehen wir uns ganz gut, aber unsere Differenzen lassen solch große Unterschiede zwischen uns entstehen, dass wir uns damit abfinden müssen, Verwandte, aber keine sich nahestehenden Freunde zu sein.

Bedingungslose Loyalität kann einengen

Wenn man die Einstellung vertritt, dass die Familie für immer besteht und dass man loyal zu all seinen Verwandten und möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen muss, dann muss man wissen, dass man diese Einstellung selbst gewählt hat und die Freiheit besitzt, dabei zu bleiben oder aber sich davon abzuwenden. Wenn man das Glück hat, eine Familie zu haben, der man nahe steht und die Einen ehrlich auf seinem Weg unterstützt, dann ist das wunderbar und eine Situation, in der man die Nähe der Familie wahrscheinlich als enorme Kraftquelle schätzt. Dann wird die Loyalität zur Familie wahrscheinlich sehr hilfreich sein.

Wenn man sich andererseits Familienbeziehungen gegenüber sieht, die verhindern, dass man sein höchstes und bestes Selbst erreicht, dann wird übermäßige Loyalität der Familie gegenüber wahrscheinlich sehr kraftraubend sein. Man wird seinem eigenen Wachstum nur im Weg stehen, verhindern, dass man das eigene Glück und die eigene Erfüllung findet und dass man möglicherweise viel Gutes für Andere tun könnte. Wenn ich eine enge Beziehung zu meiner Geburtsfamilie unterhalten hätte, wäre es als würde ich einen Lampenschirm über meinen Geist legen. Ich wäre nicht der Mensch, der ich heute bin.

Die Art und Weise, wie ich mit der Situation mit meiner Familie umgegangen bin, hat mein Verständnis von Familie erweitert. Auf einer Stufe fühle ich eine vorbehaltlose Bindung zu allen Menschen, aber auf einer anderen Stufe betrachte ich die Menschen, mit denen ich tiefgreifende Gemeinsamkeiten teile, als meine wahre Familie. Meine Frau und ich haben zum Beispiel die Gemeinsamkeit, das Beste für unseren Planeten tun zu wollen, was in unserer Macht steht und finden uns deswegen anziehend. Deswegen ist sie (zumindest teilweise) meine beste Freundin und meine Frau. Wenn ich Menschen betrachte, die sehr, sehr bewusst und überlegt leben und ihr Leben dem Streben nach einem bestimmten Ziel verschrieben haben, habe ich das starke Gefühl, dass diese Menschen zu meiner Familie gehören. Die Verbindung erscheint mir realer als die Blutverwandschaft zu der Familie, in die ich hineingeboren wurde.

Loyalität ist ein wichtiger Wert, aber was heißt es, loyal zu seiner Familie zu sein? Da Loyalität mir sehr wichtig ist, musste ich das Konzept der Familie für mich umarbeiten, sodass meine Loyalität in erster Linie meinem höchsten und besten Selbst gilt und erst danach den Leuten, denen ich geboren wurde. Das war ein schwieriger mentaler Schritt für mich, aber auf lange Sicht gesehen, gibt er mir ein Gefühl von Frieden. Ich sehe nun, dass Familie ein Konzept ist, dass sich weit über die Blutsverwandschaft hinaus ausdehnen kann.

Probleme auf einer höheren Bewusstseinsebene lösen

Ich schlage jedenfalls vor, dass, wenn es Probleme in der Beziehung zu Familienmitgliedern gibt, die auf einer bestimmten Bewusstseinsstufe bestehen, es sein kann, dass man sein Bewusstsein auf eine höhere Stufe bewegen muss, um seine Wertvorstellungen und Definitionen von Begriffen wie Loyalität und Familie eingehender zu untersuchen.

Wenn man die Schwierigkeiten in der Familie auf einer höheren Stufe gelöst hat, dann passiert das häufig auf der niedrigen Stufe wie von selbst. Entweder kann man die Probleme überwinden und findet eine neue Art und Weise, die Beziehung ohne Konflikte weiterzuführen oder man akzeptiert, dass man aus der Beziehung in seiner derzeitigen Form herausgewachsen ist und man sich selbst die Erlaubnis erteilen sollte, zu einer neuen Definition von Familie überzugehen.

Also—, wenn man eine problematische Beziehung verabschiedet, verabschiedet man sich eigentlich von einem alten Teil vom eigenen Selbst, aus dem man herausgewachsen ist. Als ich nach und nach Gemeinsamkeiten mit meiner Geburtsfamilie verlor, verlor ich gleichzeitig Teile meines Selbst, die mir nicht länger dienlich waren. Ich ließ starres religiöses Dogma, die Angst, Risiko einzugehen, Tiere zu essen, Negativität und die Unfähigkeit “Ich liebe dich” zu sagen hinter mir. Ich entließ alle diese Dinge aus meinem Bewusstsein und so änderten sich meine Beziehungen auch in der äußeren Welt, da sie meine inneren Einstellungen widerspiegeln.

Wie innen, so außen. Wenn man sich an konfliktreichen Beziehungen im Leben festhält, dann ist der wirkliche Grund die eigene innere Bindung zu konfliktreichen Gedanken. Wenn man diese gedankliche Beziehung im eigenen Kopf ändert, wird sich die physische Welt widerspiegelnd anpassen. Wenn man also negative Gedanken aus seinem Kopf verbannt, wird man ebenso gleichzeitig negative Leute aus seinem Leben verbannen.

Es gibt aber einen wundervollen Regenbogen am Ende dieses Prozesses des Loslassens. Wenn man nämlich Konflikte im eigenen Bewusstsein löst und daher bestimmte Beziehungen geschwächt werden, dann zieht man gleichzeitig auch neue Beziehungen an, die nahe der eigenen erweiterten Bewusstseinsstufe stehen.

Wir ziehen in unserem Leben nur mehr von dem an, was wir tatsächlich schon sind. Wenn man die soziale Situation, in der man sich befindet, nicht mag, sollte man aufhören, die Gedanken auszustrahlen, die sie anzieht. Man sollte die Natur der äußeren Konflikte, die man erlebt, identifizieren und dann in ihre inneren Äquivalente übersetzen.

Ein Beispiel: Wenn ein Familienmitglied einen zu sehr kontrolliert, übersetzt man dies in seine eigene innere Version: Man fühlt, dass das eigene Leben zu unkontrolliert ist. Wenn man das Problem als äußeres identifiziert, dann werden die Lösungsversuche vielleicht so aussehen, dass man selbst versucht, andere Menschen zu kontrollieren und man wird auf starken Widerstand treffen. Wenn man das Problem jedoch als inneres identifiziert, ist es viel einfacher zu lösen. Wenn eine andere Person kontrollierendes Verhalten gegenüber einem selbst zeigt, wird man vielleicht nicht fähig sein, dies zu ändern. Wenn man jedoch meint, mehr Kontrolle im eigenen Leben zu benötigen, kann man selbst etwas dafür tun, ohne auf einmal andere zu kontrollieren.

Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass der Zweck menschlicher Beziehungen in Bewusstseinserweiterungen liegen könnte. Während des Prozesses, Probleme in einer Beziehung zu identifizieren und zu lösen, sind wir gezwungen uns mit unseren inneren Unzulänglichkeiten zu befassen. Wenn wir im Inneren bewusster werden, dehnen sich unsere äußeren Beziehungen zu höherem Bewusstsein aus.

Keine neuen Artikel mehr verpassen?
Jetzt Newsletter abonnieren.

Deine Daten sind sicher und du kannst jederzeit den kostenlosen Newsletter mit nur einem Klick wieder abbestellen. Versprochen. Datenschutz.

Persönlichkeitsentwicklung für intelligente Menschen.

Newsletter abonnieren

Nichts mehr verpassen—neue Artikel, Tipps & mehr.

© 2010–2020 Stephan Schubert, alle Rechte vorbehalten.